Hamburg hat Brahms, Düsseldorf Schumann, Bayreuth Wagner, Köln Jacques Offenbach und München Reger und Rheinberger. Leipzig aber hat sie alle! All die großen Komponisten der letzten 200 Jahre haben in Leipzig studiert, komponiert oder gastiert. Also auf nach Leipzig! als Ziel unseres diesjährigen Chorfreizeitwochenendes.
So ganz ohne Stau ließen sich die gut 500 km am Freitagnachmittag doch nicht fahren, aber spätestens, als wir am Abend endlich in Auerbachs Keller gemütlich zusammensaßen, war – mit Mephistos Hilfe? – aller Stress verflogen, die Versuchung nach kulinarischen Köstlichkeiten und Köstritzer Schwarzbier aber blieb zunächst.
Hier in Leipzigs berühmtester Traditionsgaststätte fühlten wir uns gut aufgehoben, fast „kannibalisch wohl“, wie es bei Goethe heißt. Soll nicht der an die Kellergewölbe gemalte Fassritt Fausts dermaleinsten der Studentenkneipe zu Weltruhm verholfen haben, indem er den lebensfrohen Studenten Goethe zur Faustdichtung inspirierte? Eine kleine, aber entscheidende Szene aus dem „Faust“ tauchte schon einmal in unserem „Krimi- Konzert“ von 2013 auf. Franz-Josef und Antonius zitierten damals einen kleinen, aber entscheidenden Part aus der Studierzimmerszene: Mephisto erscheint dem Faust in Gestalt eines Pudels. Am Ende schließen die beiden den Teufelspakt. Kriminalität pur!
Der Samstag begann mit einer kleinen Führung zu den Hauptattraktionen der Stadt: Gewandhaus, Thomas- und Nikolaikirche, Universität. Nach einer kurzen Pause im traditionellen Kaffeehaus Riquet steuerten wir anschließend das Mendelssohn-Haus in der Goldschmiedstraße an. Der Gewandhauskapellmeister zählt zu den berühmtesten Söhnen der Stadt und seit dem 150. Todestag des Musikers ehrt man ihn durch ein eigenes, mit moderner Technik ausgestattetes interaktives Museum. Und das ist eine kleine Sensation:
Mit Hilfe einer Raum füllenden Installation im Effektorium kann man selbst zum Dirigenten eines digitalen Orchesters werden. Wir fanden es sehr ungewöhnlich und schon aufregend, sich auf diese Weise dem Komponisten der Romantik mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts zu nähern.
Was wäre Leipzig ohne die berühmten Thomaner! Über 800 Jahre gibt es sie schon, haben Kriege, Hungerjahre, Pest, Umstürze und alle Versuche ideologischer Vereinnahmung überstanden. Und heute Nachmittag ihr erstes Konzert nach der Sommerpause. Die 16 neu aufgenommen Jungen worden zogen feierlich durch den Mittelgang in die Kirche ein. Nett anzusehen waren sie in ihren schmucken „Kieler Blusen“ und jeder von ihnen hatte neben seinen Noten eine Sonnenblume in der Hand, die er vorn am Grab des größten Thomaners, Johann Sebastian Bach, niederlegte. Ein großes und bewegendes Zeremoniell. Jeder von ihnen war sicherlich ein begnadeter Sänger, aber die Ausbildung würde auch anspruchsvoll und hart sein, dachte man. Dann sangen sie in Begleitung des Gewandhausorchesters die Kantate BWV 179, die mit Christen harsch ins Gericht geht: „Das heutige Christentum/Ist leider schlecht bestellt:/Die meisten Christen in der Welt/sind laulichte Laodizäer/und aufgeblasne Pharisäer/Die sich von außen fromm bezeigen/Und wie ein Schilf den Kopf zur Erde beugen,/Im Herzen aber steckt ein stolzer Eigenruhm…“.
Trotzdem, es klang herzzerreißend!
Während wir in das Thomanerkonzert eher zufällig geraten waren, war Haydns „Schöpfung“ vorprogrammiert, aufgeführt vor den Toren Leipzigs in der Klosterruine Wachau. Vielleicht war diese Aufführung musikalischer Höhepunkt unserer Chorfreizeit, weil Dirigent und Chor und Orchester der „amici musici“, einer Vereinigung von durchgehend jungen Leipziger Künstlern, ebenso wunderbar zusammenspielten wie die Solisten sich ergänzten, die wir – in der ersten Reihe sitzend – hautnah erleben durften. Dazu herrlich sommerliche Temperaturen und der besondere Genius loci, der den Blick von den Sängern unmittelbar in den Sternenhimmel ermöglichte. Ein unvergesslicher Eindruck. Fast könnte man Haydn gleichsam als zweiten Schöpfer feiern, so vollkommen erschien uns die musikalische Umsetzung der Erschaffung der Erde. Jean Paul bemerkte einmal, er habe in dieser Musik die Schöpfung förmlich gesehen und nicht nur gehört. Dem ist nichts hinzuzufügen und auch unser „Wagnerianer“ Claudius war sichtlich beeindruckt.
Bei einem Absacker im schon nächtlichen Schatten der Nikolaikirche waren wir uns einig, dass dieser Tag dicht und abwechslungsreich und auch erfüllend war.
Der Besuch eines Sonntagsgottesdienstes gehört zur festen Tradition unseres jährlichen AufTakt-Ausflugs. Leipzigs einzige katholische Kirche bot rein zufällig einen Fernsehgottesdienst an, der live im ZDF übertragen wurde. Irgendwie aufregend und auch fremd: die zahlreich aufgebauten Kameras, die ausschließliche Sendezeit von 45 min (und keine Sekunde länger!), Gottesdienst mit Vorgaben und Einweisungen, Abbruch des Kommuniongangs aus Gründen der Zeitökonomie, dafür noch schnell Segen, Schlusslied und Auszug. Doch sahen wir auch eine aktive Gemeinde und überall in den Gesichtern und untereinander: Freude, Herzlichkeit, Verbindlichkeit. Eine ungewohnt gemischte Konstellation, die immer noch nachwirkt.
Über Magdeburg zurück ins Emsland im Gefühl, ein wunderbares, vertrautes Miteinander erlebt zu haben, d’accord mit Goethe: „Mein Leipzig lob ich mir. Es ist ein Klein-Paris und bildet seine Leute.“

Johannes Leifeld