Von Höllenritt und Himmelfahrt –  Berlioz’ „La Damnation de Faust“
1. Prolog:
Irgendwann im vergangenen Januar war im Radio eine Besprechung der „Höllenfahrt“ aus „La Damnation de Faust“ von Berlioz, eingespielt von Colin Davis, zu hören; diese spannenden und äußerst interessanten fünf Minuten machten neugierig auf die Frage, wie der französische Komponist den deutschen Klassiker verarbeitet hat. Nun war uns Berlioz nicht fremd, bei früherer Gelegenheit hatte uns schon Benno mit der „Symphonie fantastique“ vertraut gemacht. Dort war es ja die Geliebte selbst, die für den Künstler zur Melodie, zu einer „Idée fixe“ wurde. Auch der „Faust“ ist uns ein „alter Bekannter“, der seinen gebührenden Platz bereits im Krimiprogramm von 2013 („Was macht der Herr da… – Dunkle Gestalten und lichte Augenblicke“) behauptet hat. Damals zitierten Antonius und Franz-Josef einen kleinen, aber entscheidenden Part aus der Studierzimmerszene: Mephisto als Pudel, am Ende der Teufelspakt. Über das angespannte Verhältnis zwischen Berlioz und Wagner könnte Claudius wohl berichten. „Formschönheit ist nirgendwo anzutreffen“, so das gestrenge Urteil des Bayreuthers über die Symphonie fantastique. Und in Auerbachs Keller waren wir schließlich allesamt, fühlten uns dort „pudelwohl“, damals im August 2018.
2. Berlioz und Goethes Faust
3. Berlioz – biographische Züge
4. Ausgewählte Aspekte:
– Ungarischer Marsch
– Fuge über das Amen in Auerbachs Keller
– Studentenlied/Soldatenlied
– Gretchen am Spinnrade (Vgl. mit Schubert)
– Höllenritt und Pandämonium
– Im Himmel
5. Epilog
2. Berlioz und Goethes Faust
Als der „Faust“ 1808 zur Leipziger Ostermesse erschien, war dieses Werk sofort ein Klassiker. 1826 übersetzte der romantische Schriftsteller Gerard de Nerval im zarten Alter von 19 Jahren Goethes Drama ins Französische. Damit ermöglichte er französischen Künstlern Zugang zu einem Werk, in dem sich ihre romantischen Empfindungen spiegeln konnten. Einer von ihnen ist Hector Berlioz. „Goethes Übersetzung in der Fassung de Nervals bezauberte mich vom ersten Augenblick an. Ich ließ das wunderbare Werk nicht mehr aus der Hand, ich las es unaufhörlich, bei Tische, im Theater, auf der Straße, überall“ (S.155). Hoch motiviert bringt er die „Huit Scènes de Faust“ zu Papier, lässt einige Exemplare dieser Faustszenen drucken und schickt sie im April 1829 erwartungsvoll Goethe. Dieser wandte sich sogleich an den Dirigenten und Komponisten Carl Friedrich Zelter, seinen Vertrauten in musicis, drängte ihn zur Stellungnahme. Zelters Urteil fiel vernichtend aus:
„Gewisse Leute können ihre Geistesgegenwart und ihren Anteil nur durch lautes Husten, Schnauben, Krächzen und Ausspeien zu verstehen geben. Einer von diesen scheint Herr Hector Berlioz zu sein. Der Schwefelgeruch des Mephisto zieht ihn an, nun muss er niesen und prusten, dass sich alle Instrumente im Orchester regen und spuken – nur am Faust rührt sich kein Haar.“ Berlioz wartete vergeblich auf eine Reaktion Goethes.
Diese „Niederlage“ verschweigt Berlioz in seinen Memoiren und verbrennt daraufhin alle Exemplare seiner Faustvertonungen, die er noch aufspüren kann.
1845, 1 ½ Jahrzehnte sind vergangen. Die Geschichte des Doktor Faust hat Berlioz nicht losgelassen. Während einer Europareise nimmt sich der 43jährige Komponist den deutschen Doktor noch einmal vor. „In der Eisenbahn, auf Dampfschiffen, in einer alten deutschen Postkutsche dahinrollend, … der Rest wurde in Paris geschrieben. Ich suchte nach Ideen, ich ließ sie mir einfallen“ (S. 496 ff.). „La Damnation de Faust“ nennt jetzt der Franzose in diesem zweiten Anlauf sein Zweistundenopus. Die „dramatische Legende“ ist eine abenteuerliche Mischung aus Oper, Konzert und Oratorium. Berlioz verfasste eine ausdrucksstarke Orchesterpartitur, die reich an Klangfarben, emotionalen Kontrasten und fantastischen Stimmen ist. Gesangssolisten schlüpfen in die Rolle von Faust, Mephisto und Margarete. Von überwältigendem Effekt sind die Chöre, wenn z. B. Studenten und Soldaten polyrhythmisch aufeinanderprallen. Im Verlauf seiner Arbeit an Fausts Verdammnis greift Berlioz massiv in Goethes Vorlage ein, schreibt das Libretto selbst, verändert Szenenfolgen, findet neue Schauplätze. „Ich war bestrebt, das Meisterwerk weder zu übersetzen noch gar nachzuahmen, sondern mich nur von ihm inspirieren zu lassen und die in ihm enthaltene musikalische Substanz zu extrahieren“ (S. 496). So wird Goethes Faust zu einem „Faust à la Berlioz“. Das Resultat ist ein Werk der Selbstreflexion, ein Selbstportrait des emotional aufgeladenen Künstlers.
Am Nikolaustag 1846 geht die „Damnation de Faust“ zum ersten Mal über die Bühne. Es schneit. „Das feine Pariser Publikum, das im Ruf steht, musikverständig zu sein, blieb ruhig daheim, so wenig bekümmert um meine neue Partitur, als wenn ich der obskurste Konservatorist gewesen wäre, und es waren bei diesen beiden Aufführungen nicht mehr Leute in der Komischen Oper, als wenn man die dürftigste Oper ihres Spielplans gegeben hätte.“ Weiter heißt es: „Ich war ruiniert, nichts in meiner Künstlerlaufbahn hat mich tiefer verletzt als diese unerwartete Gleichgültigkeit“ (S. 499).
Soweit zunächst zu Berlioz und seiner „Damnation de Faust“.
3. Berlioz – biographische Züge
Heute steht fest: Berlioz war der „Erfinder“ des modernen Orchesters, dessen Grundlagen er in einer (bis heute gültigen) Instrumentationslehre festlegte – das Vorbild für Liszt und Richard Wagner, auch wenn Mendelssohn– die beiden Musiker begegneten sich in Rom –ganz anders urteilte: „Seine Instrumentierung ist entsetzlich schmutzig und so durcheinander geschmiert, dass man die Finger waschen muss, wenn man mal eine Partitur von ihm in der Hand gehabt hat. Zudem ist es auch noch schändlich, seine Musik aus lauter Mord und Not und Jammer zusammenzusetzen.“
Berlioz gelang es zeit seines Lebens nicht, in Paris Fuß zu fassen, dort galt er als größenwahnsinniger und gefährlicher Irrer, der von einem Orchester mit mehr als 450 Musikern träumte…, „mit 250 Streichern, 30 Harfen, 30 Klavieren, 120 Bläsern und 20 Schlagzeugern!“ Ungleich größer war die Begeisterung, die er als Dirigent und Komponist fast 25 Jahre lang auf seinen Konzertreisen nach Deutschland, Österreich, Russland, London, Prag und Budapest erlebte.
Biographisches im Zeitraffer: Berlioz wandte sich gegen den Widerstand seines Vaters, eines pragmatisch gesinnten Arztes, und verfolgt von den Verwünschungen seiner Mutter, einer fanatischen Katholikin, vom Studium der Medizin ab und der Laufbahn eines Musikers zu. Er begeisterte sich für die Opern Glucks und die Sinfonien Beethovens, schwärmte wie viele andere für Goethes Faust und den fantastischen Humor E.T.A. Hoffmanns.
Ein Visionär und Schwärmer, dessen Träume und Leidenschaften freilich an der Realität zerbrachen. Der ständige Kampf um Anerkennung, zwei unglückliche Ehen und noch mehr brachen schließlich seinen Lebensmut und –willen. Am Ende sein Lieblings-Zitat: „Aus, kleines Licht!“
Die vier Männer, die den Sarg auf dem Cimetière de Montmartre zum Grab geleiteten, hatten nicht schwer zu tragen: Der Tote war klein und zierlich gewesen, 65 Jahre alt geworden, gerade einmal 1,63 Meter groß. Todesursache wahrscheinlich eine Darmkrankheit, vielleicht Morbus Crohn.
4. Ausgewählte Aspekte:
Von den 20 Szenen aus der „Damnation de Faust“ sind hier einige wenige vorstellen, die es zu untersuchen vielleicht besonders lohnt.
Das Opus gliedert sich in vier Teile. Schon gleich in der ersten Szene des ersten Teils setzt sich Berlioz deutlich von der Goethe’schen Vorlage ab:
Die Handlung spielt in Ungarn, Norddeutschland und im Jenseits, 16. Jahrhundert.
Wir hören Faust nicht in der Enge seines Studierzimmers über Wissen und Unwissen oder die Beherrschung der Natur sinnieren, sondern wir begegnen ihm in der Weite einer ungarischen Ebene bei Sonnenaufgang. Er ist allein, berauscht vom Schauspiel des erwachenden Tages und des beginnenden Frühlings; freudig sieht er den Bauern beim ländlichen Reigen zu. Als aber Soldaten aufmarschieren, verfällt er gleich wieder in Trübsinn. Die Verlegung der ersten Szene nach Ungarn erlaubte es Berlioz, den populären Rákóczi-Marsch effektvoll und mit historischem Hintersinn in das Stück einzubauen. Rákóczi war eine Symbolfigur der Ungarn gegenüber den Habsburgern. Das musikalische Soldatendéfilé ist mit seinem mitreißenden, klanggewaltigen Tableau einer der ersten Höhepunkte des Werkes.
Ungarischer Marsch
https://www.youtube.com/watch?v=oJZKTRlDFVg
An diese Eröffnung schließen dann die Szenen 2-4 bruchlos an, obgleich sie nun weitestgehend dem Plot des Goetheschen Dramas folgen:
Teil 2:
Faust und Méphistophélès: Studierzimmerszene, Auerbachs Keller, Traumszene;
Der Klang eines Osterchorals lässt Faust seine Suizidgedanken vergessen.
Es ist bezeichnend, dass Méphistophèlés blitzartig mit dem „Tritonus“, dem „Diabolus in musica“, in der Osternacht seinen ersten spektakulären Auftritt hat (drei scharfe Trompetenakkorde in gewagter Modulation). Er verspricht, Faust die „wahrhaftige Welt“ zu zeigen. Mephisto ist in dieser Oper eine weitaus brillantere und vitaler angelegte Gestalt, voller ironischer Souveränität, anders als der Teufel des 18. Jh., den man im Wesentlichen nur aus den sonntäglichen Predigten kannte.
Die erste Etappe der gemeinsamen Reise (ohne jeden Pakt!) startet in Auerbachs Keller, Branders Lied von der zugrunde gehenden Ratte, die im Gift verendet wie ein Mensch an der Liebe, dient nur als Auftakt zu der berühmt-berüchtigten Amen-Fuge. Mitleidlosigkeit in krasser Form wird da musikalisch in ein geistliches Gewand gekleidet. Berlioz nannte solch monströse Fugen, die eher dem Grölen von Betrunkenen ähneln und dadurch nichts als eine lasterhafte Parodie des sakralen Textes und Stils zu sein scheinen, eine „barbarische Kulturschande, würdig nur barbarischer Zeiten und Völker.“ (S. 98) Vielleicht rechnete auch Berlioz damit, dass eine derartig Fuge den Beifall des Pariser Publikums finden könnte, oder aber es war seine Absicht, die extremen Abgründe menschlicher Geschmacklosigkeit und unappetitlicher Sauferei hier sehr deutlich werden zu lassen. Faust jedenfalls zeigt sich vom Treiben in der Studentenkneipe enttäuscht.
Fuge über das Amen
https://www.youtube.com/watch?v=wXjpKyhUdL8
Méphistophèlés merkt, dass er eine andere Taktik anwenden muss, um Faust in seine Gewalt zu bekommen. So versetzt er ihn in einen tiefen Schlaf und lässt ihn von der schönen jungen Marguerite träumen. Nach seinem Erwachen ist Faust nur noch von dem Gedanken beseelt, Marguerite zu finden. Méphistophèlés verspricht, ihn zu ihr zu bringen.
Auf dem Weg zu ihr kommen sie an einer fröhlichen Schar von Studenten und Soldaten vorbei, die auf der Jagd nach Mädchen nachts die Straßen durchstreifen, doch vor Fausts innerem Auge erstehen nur Visionen von Toten nach einer furchtbaren Schlacht.
Eine besondere Art von Klangregie verwendet Berlioz, wenn er den Soldatenchor mit dem Chor der Studenten zusammenführt. Die singen zwar lateinisch, doch ändert das nichts an ihrer Primitivität, die sie schon in Auerbachs Keller an den Tag gelegt haben. Musikalisch interessant, wenn am Ende beide Chöre simultan zu einer Art Raummusik überblendet werden.
Soldatenchor und Studentenlied
https://www.youtube.com/watch?v=MUuNYfCXEtw
Teil 3: In Marguerites Zimmer: König von Thule/Verführungs-/Liebesszene;
Faust betritt das Zimmer Marguerites und ist von der Reinheit der Welt, in der sie lebt, überwältigt. Dann aber erscheint Mephisto, warnt ihn vor der Ankunft Marguerites und versteckt ihn hinter einem Vorhang. Nachdenklich betritt die Frau ihre Kammer und verspürt auch eine gewisse Angst. Beim Flechten ihres Haares singt sie traurig die Ballade vom „König von Thule“.
Dann entdeckt sie Faust und erkennt in ihm ihren Geliebten aus ihrem Traum. Faust gesteht ihr seine Liebe und bald fallen sich die Liebenden in die Arme (Duett).
Doch da erscheint Méphistophèlés mit schlechten Nachrichten, beschwört beide zur Flucht.
Die Nachbarn, von Mephisto aufgehetzt, verhöhnen und verspotten Marguerites Mutter, weil ihre Tochter durch einen Mann Schande über sich gebrachte habe. Die beiden Liebenden versprechen, bevor sie sich trennen, sich am nächsten Tag wiederzusehen, während Mephisto sich dazu beglückwünscht, dass er endlich Macht über die Seele seines Opfers erlangt hat. (Dieses Terzett mit Chor erinnert an den aufklärenden Charakter eines griechischen Tragödienchores). Schließlich überredet Méphistophèlés Faust, sich zu entfernen und Marguerite in ihrem Unglück allein zu lassen.
Teil 4: Marguerites Zimmer: Spinnradszene/Soldaten- und Studentenchöre im Hintergrund/Wald und Höhle/Höllenritt/Pandämonium/Marguerite im Himmel)
Allein in ihrer Kammer gibt sich Margarethe ihrer Verzweifelung hin. Ihr von Liebe verzehrtes Herz vermag keinen Frieden mehr zu finden. Sie singt die Romanze „Meine Ruh ist hin…“ (Gretchen am Spinnrade).
An dieser Stelle lohnt sich ein Vergleich mit Schuberts Kunstlied gleichen Titels.

Wortgetreue Übersetzung des franz. Originals        Goethe im Original (Schubert)

Die glühende Flamme der Liebe
verzehrt meine schönen Tage.
Ach, der Frieden meiner Seele
ist für immer entflohen.Sein Fortgehen, seine Abwesenheit
sind für mich wie ein Sarg
Und fern von ihm
Scheint mir alles in Trauer versunken.

 

Mein armer Kopf
verwirrt sich sofort
Mein armes Herz steht still
und wird dann zu Eis.

Seinen Gang, den ich bewundere
Seine anmutige Haltung,
Sein Mund mit dem sanften Lächeln
Der Zauber seiner Augen,

Seine betörende Stimme,
mit der er mich entflammt,
Das Streicheln seiner Hände,
Und ach! Sein Kuss!

In einer verliebten Flamme
verzehren sie meine schönen Tage.
Und der Frieden meiner Seele
ist für immer entflohen.

Ich stehe an meinem Fenster
oder draußen – den ganzen Tag,
nur um ihn nahen zu sehen,
um sehnlichst seine Rückkehr zu erwarten.

Mein Herz klopft und pocht
sobald es ihn kommen fühlt,
Als ob ich ihn mit meiner zärtlichen Liebe zurückhalten könnte!

Oh, Liebkosung der Flammen,
in der ich eines Tages,
in seinen Liebesküssen
meine Seele aushauchen will.

Meine Ruh‘ ist hin,
Mein Herz ist schwer;
Ich finde sie nimmer
Und nimmermehr.Wo ich ihn nicht hab‘,
Ist mir das Grab,
Die ganze Welt
Ist mir vergällt.

 

Mein armer Kopf
Ist mir verrückt,
Mein armer Sinn
Ist mir zerstückt.

Meine Ruh‘ ist hin,
Mein Herz ist schwer;
Ich finde sie nimmer
Und nimmermehr.

Nach ihm nur schau‘ ich
Zum Fenster hinaus,
Nach ihm nur geh‘ ich
Aus dem Haus.

Sein hoher Gang,
Sein‘ edle Gestalt,
Seines Mundes Lächeln,
Seiner Augen Gewalt,

Und seiner Rede
Zauberfluß,
Sein Händedruck,
Und ach sein Kuß!

Meine Ruh‘ ist hin,
Mein Herz ist schwer;
Ich finde sie nimmer
Und nimmermehr.

Mein Busen drängt
Sich nach ihm hin.
Ach dürft‘ ich fassen
Und halten ihn,

Und küssen ihn,
So wie ich wollt‘,
An seinen Küssen
Vergehen sollt‘!

Meine Ruh ist hin (Schubert)
https://www.youtube.com/watch?v=MY0eeotSDi8

Romanze (Berlioz)
https://www.youtube.com/watch?v=prc-yp68HGc

Eigentlich geschieht fast nichts in „Gretchens Stube“. Doch die Dramatik dieses Monologs in zehn Strophen ist kaum zu überbieten. „Gretchen am Spinnrade allein“, lautet die knappe Anweisung zu der kurzen Szene in Goethes Faust. Theoretisch könnte man sich das Mädchen, das die Verse im Rhythmus des Rades erregt vor sich hin spricht, als einen glücklichen Menschen vorstellen. Aber Gretchens Verse entfalten eine Eigendynamik, besonders die letzten Verse verweisen auf das unendlich traurige Ende der Liebesgeschichte, „wo ich ihn nicht hab, ist mir das Grab.“ Das ist wörtlich zu verstehen. Das ist Teil einer der vielen großen Dichtungen über Liebe und Tod. Vorrangig ist es in dieser Ballade die Gefühlswelt, ausgelöst durch die Unruhe, das Leiden an der Abwesenheit des Geliebten und die Sehnsucht nach ihm, die das Mädchen außer Fassung geraten lässt. Die Verse und Strophen sind äußerst kurz und könnten kaum kürzer, atemloser noch sein. Ein Durcheinander herrscht in den Zeilen. Die Versenden reimen sich mal nach diesem, mal nach jenem Schema, mal überhaupt nicht. Die Wiederholung der Anfangsstrophe folgt in unregelmäßigen Abständen. Die Zahl der unbetonten Silben vor oder hinter den betonten wechselt ständig.
Berlioz’ Marguerite ist mit Abstand die Erotischste aller Margarethen und ein Regisseur äußerte einmal, wohl nur ein Franzose könne sich so etwas ausdenken, der keine Ahnung von der deutschen blondbezopften, blütenblätterzupfenden Unschuld vom Lande hat.

Berlioz (im französischen Original)
– regelmäßiges Reimmaß: abababab
– sinngemäße Übersetzung der deutschen Vorlage (s.o.)
– Vertonung von 36 der 40 Verse
– Betonung: Wechsel vorletzte/letzte Silbe
– hervorragende Singbarkeit und Melodiefluss
– kein verwirrtes unschuldiges junges Mädchen
– leidenschaftlich entflammte und sehr entflammbare Frau
– scheint die Freuden der Liebe bereits heftig genossen zu haben
– alles ein einziges weibliches Verströmen und Ergießen- Melodie wird zunächst vom elegischen Englischhorn angestimmt
– Text kommentiert die Melodie!
– unterdrückte Erregtheit klingt in den Pizzicato-Sechzehnteln der tiefen Streicher an
Goethe/Schubert
– unregelmäßig; vorherrschend: abcb
– original Goethe
– 40 Verse vertont
– Betonung nur auf der letzten Silbe
– zerhacktes Versmaß- junge unerfahrene Frau
– weiß nicht richtig, was da in ihr vorgeht
– traut noch nicht ihren eigenen Gefühlen
– kann sie nicht richtig benennen- monoton verlaufende Sechzehntel der rechten Hand
– innere Unruhe
– ausweglos dem Schicksal verfallen
– sie wartet vergeblich auf Faust

Bei Goethe und bei Berlioz wird Faust nach der Begegnung mit der Geliebten mit der Natur konfrontiert. Dort die Anrufung der Natur, hier das Glück in der Erhabenheit des Weltenraums.
Méphistophèlés sucht Faust auf, teilt ihm mit, dass Marguerite als Muttermörderin zum Tode verurteilt sei. Um die Liebesstunden mit Faust genießen zu können, hatte sie ihrer Mutter auf Geheiß des Geliebten ein Schlafmittel eingeflößt, das diese am Ende tötete. Jetzt ist die Stunde des Pakts gekommen: Méphistophèlés ist bereit, Marguerite zu retten, wenn sich Faust verpflichtet, ihm „morgen“ zu dienen. Tatsächlich: Das Pergament wird unterschrieben und Faust folgt Mephisto zu dem vermeintlichen Haus Margaretes; das ist der „Ritt in den Abgrund“, der „Höllenritt“, begleitet vom Gesang eines Dämonenchores, für den Berlioz eine lautmalerische Höllensprache einsetzt.
Anders als für Goethes Helden gibt es für Berlioz’ Faust keine Rettung. Mephistopheles und Faust brausen auf zwei ungestümen schwarzen Rössern dem Abgrund, der Hölle, entgegen.
Der Ritt in den Abgrund wird in galoppierender Hatz von den Streichern beschleunigt, während die Einwürfe der Bläser für Entsetzen und Schauern sorgen. Unter den beständig anfeuernden Rufen Méphistophèlés’ »Hopp, Hopp« stürzen beide dem Abgrund in das Pandämonium, wo die bösen Geister hausen.
Die ostinate Struktur durchläuft über 100 Takte, beginnt einstimmig mit den ersten Violinen, wird dann zweistimmig, wenig später zeitweise mit einer Triolen- und Sextolenschicht kombiniert, kommt dann für vier Takte zum Stillstand (Méphistophèlés und Faust halten inne, kurzer Gedanke an eine Umkehr), beginnt schließlich erneut und dauert nun bis zum Ende dieses Teils an. Das diabolische Element ist während dieses Ritts äußerst präsent und fast wären die apokalyptischen Reiter mitten in eine fromme Pilgerschar galoppiert (Santa Maria, ora pro nobis/Santa Margarita, ora pro nobis). Es sind aber nicht nur die wilden Orchesterausbrüche, die die panische Unheimlichkeit der Situation spiegeln, sondern auch Méphistophèlés selbst, der die Rappen und den Verlorenen, attackiert von einem riesigen Schwarm schwarzer Nachtvögel, unbarmherzig und hochgradig gruselig bis zur Höllenpforte antreibt. Hier einige dialogische Wortfetzen aus Höllenritt und Hölle. Dominant das teuflische Anfeuern:
„Hast du Furcht?“
„Kehren wir um!“
„Vorwärts, nur voran!“
„Die Rosse schaudern, ihre Mähnen sträuben sich, sie zerreißen ihre Zügel. Ich sehe vor uns die Erde sich krümmen.“
„Hopp! Hopp! Hopp!“
Der Chor der Teufel und Dämonen leistet das Seinige, empfängt die beiden in einer kakophonen Höllensprache unter höhnischem Gelächter.
„Diff! Diff! Has, Has, Satan! Belphegor.
„Has! Has! Mephisto. Diff! Diff! Belzebuth!“
Fausts letzte Worte: „Es regnet Blut. Entsetzlich…“
Dann Mephisto mit Donnerstimme: „Ich bin Sieger!“
Musikalisch symbolisieren die tiefen sonoren Töne der Posaune die Siegesfanfaren der Hölle. Als sanfter und melodischer Gegenpol dazu hören wir die Oboe. Immer wieder denkt Faust an Marguerite. Die Oboe besitzt „Jungfräulichkeit“ und so etwas wie „naive Anmut“. Die Oboe war einst das Hirteninstrument und zum Hüten der Schafe wurden einst Kinder eingesetzt. Während des Höllenritts verkörpert die Oboe Margarete, deren Errettung aus dem Kerker alleiniges Anliegen Fausts ist. Grandios von Berlioz hier kombiniert: die Tempo setzenden Streicher, kontrastiv Oboe (Faust/Marguerite) und Posaune (Méphistophèlés).
Höllenritt

https://www.youtube.com/watch?v=zEz_Bcmk0NU
Geht die angsterregende Wirkung beim Höllenritt von der den Satz beherrschenden rhythmischen Struktur aus, so ist es im furiosen Pandaemonium neben dem Chor der Dämonen und Verdammten das geballt zur klanglichen Entladung kommende Aufgebot an Holz- und Blechbläsern sowie des Schlagwerks, das fünf Spieler erfordert. Ein Gipfel der Maßlosigkeit, nichts anderes ist die Höllenfahrt, und erinnert ziemlich an die beiden Schlusssätze der „Symphonie fantastique“, den „Gang zum Hochgericht“ und den „Hexensabbat“.
Kontrast am Ende: Fausts Verdammung, Marguerites himmlisch süße Apotheose im verklärenden Des-Dur. Satans Macht wird gebrochen: Zu einem „irdischen Epilog“ erscheint eine Vision von Margarethes Seele; die Stimmen vereinen sich zu einem Chor der Geretteten. Unter sphärischen Klängen wird Marguerite in den Himmel aufgenommen.
Im Himmel

https://www.youtube.com/watch?v=4UALu3HXr34
5. Epilog:

Berlioz gelingt etwas wirklich Interessantes: Faust schließt erst am Ende den Teufelspakt, quasi als Preis für Marguerites Errettung! Dass ihn Mephisto hereinlegt und mit ihm direkt in die Hölle reitet anstatt in den Kerker, kann er ja nicht wissen. Es bleibt also die Frage:
Warum wird nicht Faust erlöst, der schließlich seine Ichbezogenheit überwindet und sich für Marguerite opfert.
Warum aber wird Marguerite, die Muttermörderin, gerettet?
Inwiefern ist sie unschuldiger oder, wenn es so etwas gibt, „erlösungswürdiger“ als Faust?
Er hat sie verführt, das stimmt, ihre Unerfahrenheit skrupellos ausgenützt, er gab ihr den Tipp, ihrer Mutter eine „braune Flüssigkeit“ zu verabreichen, die schließlich tödliche Wirkung zeigte, aber Faust verkauft zum Schluss seine Seele, um die Geliebte zu erretten. Was also hätte summa summarum die Höllenfahrt gerechtfertigt?
Vielleicht ist Fausts Höllenfahrt eine Selbstverdammung. Vielleicht ist sein schlechtes Gewissen Grund seines Verhaltens, für das er die Verdammung in die Hölle zu verdienen glaubt. Fausts schlechtes Gewissen wird schon in Goethes Szene „Trüber Tag. Feld“ manifest. Sie ist die einzige Szene der Tragödie, die im Nachhinein nicht versifiziert wurde.
Oder hatte Berlioz Kenntnis von literarischen Vorbildern Goethes, etwa dem Volksbuch „Historia von D. Johann Fausten“? Auch dort endet Faust in der Hölle. Eher nicht, zu sehr verließ sich Berlioz auf Gerard de Nervals Übersetzung.
Berlioz war ein die Grenzen von Kunst und Leben ignorierender Exzentriker, ein kühner Experimentator und Neuerer, ein musikalisch wie literarisch gleichermaßen begnadeter Künstler, eine epochale Erscheinung der europäischen Romantik, der mit dem Fauststoff souverän und eigenmächtig zu verfahren imstande gewesen ist.
Der Vorhang fällt, und alle Fragen offen.
NB. Diese 5. AufTaktiade war insofern ein Novum, als sich das gewohnte Zusammenfinden in trauter Runde – coronabedingt – von selbst verbot. Also der gemeinsame Vorschlag, via Skype digitale Wege zu beschreiten, auch Hörbeiträge einzuspielen. Alles möglich und ein Experiment, das sich auf jeden Fall gelohnt hat!                                 Johannes Leifeld
Literatur:
Hector Berlioz: Memoiren, neu übersetzt von Dagmar Kreher, hrsg. von Frank Heidlberger, Kassel 2007
Hans Joachim Kreutzer: Faust – Mythos und Musik, München 2003
Uwe Schweikert: Erfahrungsraum Oper, Stuttgart 2018