„Maria durch ein Dornwald ging“: Ich bin sicher, dass wir dieses Lied in den vergangenen Jahren nach dem gesetzten gregorianischen Introitus schon häufig im Rorate-Gottesdienst gesungen haben. Das liegt wohl vor allem daran, dass sich dieses Lied mit seiner wunderbar melancholischen Melodie einfühlsam in die Zeit des Zugehens auf Weihnachten einfügt.

Uralt wirkt dieses Lied und die Geschichte, die es erzählt: Die schwangere Maria ist auf dem Weg zu ihrer Cousine Elisabeth. Sie geht durch einen Wald, der schon sieben Jahre trocken, fruchtlos und völlig verdorrt ist. Dann in der zweiten Strophe verwandelt sich dieser Wald in ein Paradies, die Dornen werden wieder frisch, treiben Knospen und fangen an den Ästen zu blühen an.

Dieses Rosenwunder wird in einer schnörkellosen Sprache erzählt. Der Dichter gibt sich nicht viel Mühe, nach kunstvollen Reimen zu suchen und das Gedicht in eine geschliffene Form zu heben: Holprige Reime und unregelmäßige Verslängen bleiben nicht unbemerkt. Mitten in die Strophen eingebunden ist das griechische Kyrieleis, das am Anfang jeder katholischen Messe steht. Viele Kirchen- und Wallfahrtslieder des Spätmittelalters verwenden dieses Kyrie als Refrain und auch die schwermütige Moll-Melodie dieses Liedes klingt archaisch in ihrer schlichten bogenförmigen Bewegung. Dieser Eindruck wird verstärkt durch den zweistimmigen Satz des bekannten Musikpädagogen Bernhard Binkowski mit der Dominanz von Terzen und Quinten, der unserer Interpretation zugrunde liegt.

Man könnte von einem hohen Alter dieses Liedes ausgehen, aber es erscheint merkwürdigerweise in keinem Gesangbuch früherer Jahrhunderte, wurde erst 2013 ins Gotteslob (GL 224) aufgenommen. August von Haxthausen, von Haus aus Gutsbesitzer im Paderborner Land, hat es 1850 in seinen „Geistliche Volkslieder mit ihren ursprünglichen Weisen gesammelt aus mündlicher Tradition und seltenen Gesangbüchern“ (so der offizielle Titel) veröffentlicht. Haxthausens wahre Leidenschaft galt dem Aufspüren und der Erforschung von Volksliedern. Dafür traf er sich regelmäßig mit Gleichgesinnten. Die Brüder Grimm und Annette von Droste Hülshoff, mit der er verwandt war, zählten zum Kreis seiner Freunde, mit deren Hilfe er 1850 die Sammlung publizierte.

Wenn auch die g-moll-Tonart und der 4/4 Takt wohl für ein hohes Alter des Liedes sprechen, darf es heute als gesichert gelten, dass dieser spätromantische „Bökendorfer Kreis“ aus vorgefundenen Elementen aus dem Eichsfeld, das damals territorial zum Bistum Paderborn gehörte, ein raffiniert-simples Kunstlied geschaffen hat. Das tut dem Lied überhaupt keinen Abbruch, ganz im Gegenteil, das Lied berührt. Nach einem Quartauftakt gehen wir mit Maria gleichsam musikalisch in „Sekunden-Schritten“ durch einen Dornenwald auf Weihnachten zu. Der Dornwald, von dem hier die Rede ist, ist wohl kaum wörtlich zu nehmen, sondern als Synonym zu verstehen. Der Dornwald, das ist das Abgestorbene, Widerwärtige, Nichtgelebte und Schmerzhafte, ist verlorene Hoffnung. Das Bild vom Dornenwald steht für die Schattenseiten der menschlichen Existenz, steht für Dunkelheit, Trübsal, Krankheit, Krieg und Tod, zeigt das Jammertal menschlichen Schicksals auf.

Doch dann das Bild der Verheißung und Zuversicht: Die Rosen, die den Dornenwald verwandeln, – wie in einem anderen schönen Adventslied der Morgenstern in der Nacht, der Licht und ewiges Leben über den sicheren Tod hinaus verspricht.

Damit schlägt dieses volkstümliche Lied eine Brücke zu der Hoffnung, dass Christus den Menschen die Kraft verleiht, aus unserer heutigen Existenz aufzublühen. Dornige Zeiten gibt es wohl für jeden Menschen, und dem, der sie gerade durchlebt, bedeutet es einen Funken adventlicher Hoffnung im Zeichen der Ankunft Gottes.