„Wachet auf, ruft uns die Stimme“
Wirkt dieses Evangelium nicht ambivalent? Der Hochzeitsbericht fasziniert und deprimiert zugleich. Matthäus 25 ist bekannt, das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen, die Geschichte von den zehn Brautjungfern, die lange auf den sich verspätenden Bräutigam warten müssen und zum Teil darüber einschlafen. Mitten in der Nacht plötzlich laute Rufe: „Der Bräutigam kommt! Geht ihm entgegen!“ Jetzt zeigt sich, dass nur fünf Mädchen Öl für ihre Lampen bereithalten, die anderen müssen sich erst Öl beim Krämer besorgen. Sie kommen deswegen zu spät, das Tor zum Hochzeitssaal ist verschlossen. Keine Freude für die Törichten, eher Trauer über das Ausgeschlossensein.
Als Philipp Nicolai 1599 Motive dieser Geschichte und noch weitere in drei Strophen verdichtete und vertonte, konnte er auf ein bewegtes Leben zurückblicken. Irgendwie gehört es zu den außergewöhnlichen Möglichkeiten menschlicher Existenz, angesichts von Katastrophen nicht nur zu klagen, sondern – ganz im Gegenteil – sogar freudig geistige Hochzeitslieder anstimmen zu können.
Zu den Katastrophen: Philipp Nicolais Leben verlief keineswegs glatt. Als Sohn eines übergetretenen Pfarrers wurde er in Mengeringhausen, knapp 40 km südlich von Paderborn, geboren. Nach dem Studium in Wittenberg muss er sich zwischen Katholiken und Calvinisten behaupten. Seine Gegner sind nicht zimperlich, vertreiben ihn in Herdecke/Ruhr von seiner Pfarrstelle, verhindern in Marburg mit subtilen Intrigen die Erlangung des Doktordiploms. Schließlich nimmt er das Pfarramt in Unna an, ein Jahr bevor dort die Pest ausbricht. In diesen Monaten der grassierenden Seuche fehlt Nicolai der Sinn für Konfessionsgezänk. Sein Sinn richtet sich vielmehr vom Diesseits zum Jenseits, auf das „wunderschöne Paradeys“. Eine Gegenwelt wird errichtet. Inmitten von Tod und Elend meditiert er über das freudenreiche Leben. So entsteht in trostloser Zeit das Trostbuch „Freudenspiegel deß ewigen Lebens“.
Dieses Buch enthält neben dem „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ eben auch das „Wachet auf, ruft uns die Stimme“.
Was uns hier entgegentritt, sind hymnisch preisende Gedanken über die Pracht und Freude und die Herrlichkeit des künftigen Lebens im himmlischen Jerusalem, die mystische Hochzeit des Messias mit Zion. Der Berg Zion steht hier als pars pro toto für Jerusalem, für die Stadt Gottes, schließlich für die Gemeinde Gottes, für die gläubige Seele. In immer neuen Anläufen geht der Autor die biblischen Bilder von der himmlischen Stadt durch, vom Hochzeitsmahl, von den frohlockenden Engelchören, vom lieblichen Bräutigam des Hohenliedes. Bekanntes wird zu einem neuen Ganzen verwoben und verdichtet.
1. Strophe: Im Zentrum das bekannte Gleichnis. Den Weckruf legt Nicolai jenen Wächtern in den Mund (s. Jesaja), die das Kommen Gottes und seine Vermählung mit der Stadt Jerusalem ankündigen sollen. Wie gesagt, Nicolai verarbeitet die Motive zu einem neuen Sinngefüge. Ihm geht es nicht wie dem Gleichnis um Buße oder Vorbereitetsein in Erwartung des Bräutigams, die Pointe der biblischen Parabel ist ja das Bereithalten des Öls, das über klug und töricht entscheidet, Teilnahme oder Ausschluss von der Hochzeit, sondern Nicolai konzentriert die Aufmerksamkeit allein auf den Augenblick des Kommens des Bräutigams und auf die Reaktionen, die dieses freudige Ereignis auf die sehnsüchtig Wartenden haben soll (auffällig die sechs Imperative; von Buße, Ausschluss, Gericht kein Wort. Es gibt nur kluge Jungfrauen. Die erste Strophe hält die fröhliche Hoffnung nach dem himmlischen Jerusalem wach.
Am Ende der 2. Strophe ist die Dynamik des Aufeinanderzugehens an ihr Ziel gekommen: Die Jungfrauen ziehen mit dem Bräutigam in den Freudensaal ein.
In der dritten und letzten Strophe ist das Verfahren des Verwebens bildlicher Verweise noch engmaschiger durchgeführt. Motive aus dem Hohen Lied Salomons, aus dem Johannes-Prolog, aus der Offenbarung („und die zwölf Tore waren zwölf Perlen“) und den Psalmen („Lobt ihn mit Harfe und Zither). In diesen Lobpreis stimmen auch die Menschen mit ein, da sie nunmehr als Consorten, als Glücksgenossen der Engel Anteil an deren Bestimmung haben. An dieser Stelle ist eine interessante Textveränderung zu beobachten. Die Wandlung von Consorten zu Chor geschah zu Beginn des 19. Jh. An den Consorten lässt sich ablesen, wie gründlich Wörter in ihrem Sinn verfallen können. Das lateinische consors meint den gleichberechtigten Teilnehmer, Schicksalsgefährten. Von einer despektierlichen Nebenbedeutung kann da noch keine Rede sein. Jahrhunderte später, 1839, stehen die Consorten schon im deutschen Schimpfwörterbuch, eingeklemmt zwischen Consequenzmacher und Contrebandier, zwei bizarren Beleidigungen, die heute keiner mehr kennt. Die Justiz hat dem Wort dann endgültig den Garaus gemacht, indem die Gerichte so lange „gegen X und Konsorten“ vorgingen, bis die Konsorten auch im gewöhnlichen Leben keinen Fuß mehr auf den Boden bekamen. Ihr letztes Refugium haben die Konsorten in Bankenkonsortien, die sich für eine gewisse Zeit zur Bewältigung größerer Geschäfte zusammenschließen. Deren Mitglieder sind Konsorten, gehen mit diesem Begriff eher sparsam um, nicht zuletzt vielleicht deswegen, weil man zu einem Konsortium auch Syndikat sagen kann – mit den bekannten Assoziationen.
Die Schlussstrophe spricht gar nicht mehr von Brautjungfern, Bräutigam und Hochzeit – was zu sagen ist, lässt sich höchstens musikalisch ausdrücken: „Gloria sei dir gesungen … mit Harfen und mit Zimbeln schön.“
Kongenial zum Text des Liedes ist die Melodie.
Die Strophen sind für ein Gemeindelied ungewöhnlich lang, um sie zu singen, braucht man eine ausbalancierte, aber doch spannungsreiche Stimmführung (mit Kirschkern!).
Spannung wird durch den Tonumfang aufgebaut. Schon in den 1½ Zeilen erreicht er die Dezime (f’ bis a’’), um in den nächsten 1½ Zeilen auf den Grundton zurückgeführt zu werden. Geschlossenheit erhält das Gefüge durch die Parallelität am Schluss (Wach auf, du Stadt Jerusalem / Wo seid ihr klugen Jungfrauen / Ihr müsset ihm entgegengeh’n).
Charakteristisch ist die Wort-Ton-Verbindung, in welcher Sprechmelodie und musikalische Betonung Hand in Hand gehen. Der Beginn ist wie ein Bläsersignal (f’-a’-c’’) markiert.
Die Spitzentöne treffen auf die Silben „Hoch auf der Zinne“ (a’’, g’’, a’’, g’’), wobei neben der Höhe auch das Zickzack der Zinnen erscheint, ebenso „zu der Hochzeit“ (f’’, a’’, g’’, f’’).
Zur Erinnerung, in der 2. Strophe ist an diesen Stellen von einem freudig springenden Herzen und dem Freudensaal die Rede.
Das stufenweise Abwärtsschreiten der Phrase „der Bräut’gam kommt (b’, a’, g’, f’) findet seine Umkehrung in dem Aufwärtsgang bei „Macht euch bereit (c’’, d’’, e’’, f’’) ein musikalisches Signal für das Aufeinanderzukommen von Braut und Bräutigam.
Ein Satz am Ende zur Rubrikengeschichte. Gegenwärtig steht das Lied im EG in der Abteilung „Ende des Kirchenjahres/Hoffnung auf das Reich Gottes“, während es das „alte“ GL (bis 2013) unter der Rubrik „Advent“ führte. Die unterschiedliche Einordnung des Liedes scheint auch einer unterschiedlichen Deutung zu entsprechen. Der Wächterruf geht nach Nicolai an die Verstorbenen, in der adventlich katholischen Deutung aber eher an die Lebenden. Katholisch meint: Wir wollen nicht schlafen wie die anderen Menschen, sondern wach sein. Es mahnt zur Lebensführung, die nicht töricht, sondern klug ist. Das Lied und sein Weckruf werden so zur Mahnung, auf das Kommen des Herrn vorbereitet zu sein; letztlich steht also wieder die Frage des Öls im Mittelpunkt, dessen Bereithalten die klugen von den törichten Jungfrauen trennt und das über Ausschluss oder Teilnahme an der Hochzeit entscheidet. Nicolai kannte in fester Überzeugung nur kluge Jungfrauen und glückliche Bräute. Er wollte inmitten von Pest und Tod ein Liebeslied singen – und welcher Liebende fragt schon nach dem Öl?
Und nun zu Bach. Die Kantate BWV 140 „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ ist eine der bekanntesten Kantaten von Johann Sebastian Bach und wurde für den im Kirchenjahr nur selten vorkommenden 27. Sonntag nach Trinitatis komponiert. Diesen Sonntag gibt es nur, wenn Ostern auf einen der Tage vor dem 27. März fällt. Bach erlebte diesen Sonntag in seiner Leipziger Amtszeit nur zweimal: im Jahre 1731 und 1742. Die Uraufführung erfolgte am 25. November 1731. Grundgedanke des Textes ist auch hier die bildliche Gleichsetzung der Verbindung zwischen Jesus und der menschlichen Seele mit einer Hochzeit.
Satz 4 der Kantate führt eine durch Vorhalte geprägte Melodie der Unisono-Streicher ein, in die der Tenor den Cantus firmus zeilenweise hineinsingt.
Was Bach mit dieser Kantate geschaffen hat, ist eine zärtliche, und doch entschlossene Hochzeitsmusik. Die Braut Zion „hört die Wächter singen“, und so alternieren, einander umschlingend, die Choralzeilen und die jeweils ihr vorangestellte melodische Lyrik der Triostimme über dem Basso continuo des Pedals. Man könnte sogar sagen: Wenn man nach der „Hauptstimme“ fragte, würde man vermutlich nicht auf die Choralmelodie in der linken Hand, sondern auf die freie Oberstimme kommen, mit der der Cantus firmus begleitet wird. In dieser Form ist der Satz sehr beliebt geworden. Die begleitende Unisono-Streichermelodie gehört zu den bekanntesten Schöpfungen Bachs, wurde häufig für andere Besetzungen arrangiert und auch für die Popmusik adaptiert. Sie beginnt mit einem Quartmotiv (Horch!) und dann „ra-da-da“ (ein Anapäst wie ein kleiner Jauchzer), Seuf-zer, Seuf-zer, Seuf-zer, A-na-päst, Seuf-zer, Seuf-zer. Die Seufzer haben hier aber eine ganz andere Qualität, sie sind Seufzer der Freude, die mit denen der Trauer wohl oft eng beieinander liegen; offensichtlich ist das eine ohne das andere nicht zu haben, wie etwa auch die Adventszeit früher eine Fastenzeit war, die auf das Fest der Geburt des Heilands vorbereiten sollte.
Maarten ’t Hart schreibt in seinem „Bach und ich“: „In der Kantate BWV 140 findet man auch die berühmte Bearbeitung von ‚Zion, hört die Wächter singen‘. Ich hätte gern Bach über die Schulter geschaut, als er das komponierte. Um nachzufühlen, was man empfindet, wenn man eine solche Eingebung hat.“
Philipp Nicolai hat den Text verfasst und ihm wohl auch die Noten gegeben. Das ist unser Kirchenlied. Bach hat es zu einer wunderbaren Kantate verfeinert und am Ende seines Lebens zu einer choralgebundenen Orgelkomposition umgeschrieben und seiner Sammlung aus Orgeltranskriptionen von Kantatensätzen eingefügt. Gedruckt wurden sie 1748/49 bei Johann Georg Schübler in Zella (daher „Schübler-Choräle“) und waren ein Verkaufserfolg. Das „Wachet auf“ ist in dieser Sammlung der Vertreter eines neuen Typs von Orgelchorälen, in dem – wie oben beschrieben – eine freie, melodisch reiche Gegenstimme mit einer abgerundeten Phrasenstruktur dem Cantus firmus als hauptsächlichem Melodieelement rivalisierend gegenübergestellt wird.
Gut 200 Jahre später (1940), mitten im Krieg hat Myra Hess (1890 bis 1965), eine international anerkannte britische Pianistin, das Stück für Klavier umgeschrieben.
Es ist nicht einfach, diesen Choral auf dem Klavier zu spielen. In der linken Hand läuft der Generalbass als Oktav, Cantus firmus und die melodische Gegenstimme aber müssen zusammen von der rechten Hand bewältigt werden, das heißt, Daumen und Finger müssen sich diese Aufgabe irgendwie teilen. Und damit der Cantus firmus auch wahrnehmbar ist, muss er durch festeren Druck auf die Tasten hörbar gemacht werden, eine dynamische Herausforderung.
Verpflichtet bin ich in meinen Darlegungen besonders dem kenntnisreichen Buch: Geistliches Wunderhorn, hrsg. von Hansjakob Becker u. a., München 2001.
Johannes Leifeld